Symptom-Verschiebung als Therapieprinzip der Homöopathie

Eine Krank­heit kann grund­sätz­lich in drei Rich­tun­gen ver­lau­fen: Hei­lung, Chro­ni­fi­zie­rung oder Tod. Eine vier­te Mög­lich­keit, näm­lich die ‘Syn­drom-Ver­schie­bung’ (häu­fi­ger auch Sym­ptom-Ver­schie­bung genannt), fin­det sich als patho­ge­ne­ti­sches Prin­zip nur noch sel­ten in der moder­nen Medi­zin­theo­rie. Und dies, obwohl die Ärz­te von die­sem Prin­zip seit Hip­po­kra­tes (‘dia­do­che’ und ‘metasta­sis’) bis zu den Anfän­gen des 20. Jahr­hun­derts Kennt­nis hat­ten. Ein bekann­tes Bei­spiel ist die Ver­schie­bung von Beschwer­den bei “erfolg­rei­cher” Behand­lung von Asth­ma auf die Haut (Ekzem­bil­dung). Dass die­se Syn­drom- Ver­schie­bung auch the­ra­peu­tisch nutz­bar ist, wur­de ledig­lich von Samu­el Hah­ne­mann und sei­nen Schü­lern sys­te­ma­tisch erforscht. Ent­spre­chen­de Ver­su­che der kon­ven­tio­nel­len Medi­zin sind hin­ge­gen eher unbe­frie­di­gend ver­lau­fen — bei­spiels­wei­se künst­li­che Infek­tio­nen bei Lun­gen­tu­ber­ku­lo­se oder Lues III.

Hah­ne­mann, der Begrün­der der Homöo­pa­thie, setz­te hin­ge­gen die Syn­drom-Ver­schie­bung als grund­sätz­li­ches The­ra­pie­prin­zip ein: Sein soge­nann­tes Simi­le­prin­zip pos­tu­liert die Mög­lich­keit, eine Erkran­kung zu hei­len, wenn der Kran­ke Medi­ka­men­te erhält, die beim Gesun­den genau jene Sym­pto­me her­vor­ruft, die den Sym­pto­men der betref­fen­den Erkran­kung ähneln (“simi­lia simi­li­bus curan­tur”). Aller­dings zeig­te sich bald, daß die allei­ni­ge Anwen­dung des Simi­le­prin­zips — also die the­ra­peu­ti­sche Erzeu­gung einer Syn­drom-Ver­schie­bung — bei der Behand­lung bestimm­ter chro­ni­scher Erkran­kun­gen ver­sag­te: Nach anfäng­li­chen The­ra­pie­er­fol­gen brach/​bricht die ursprüng­li­che Sym­pto­ma­tik wie­der durch. Erst ein Schü­ler von Hah­ne­mann, Con­stan­tin Hering, ent­deck­te, daß der Ver­lauf der Hei­lung ent­schei­dend für den The­ra­pie­er­folg ist. Hering pos­tu­lier­te unter ande­rem, daß der Hei­lungs­pro­zess umge­kehrt zur Krank­heits­ent­wick­lung ver­lau­fen muss, um dau­er­haf­ten Erfolg zu gewähr­leis­ten (“Herings Gesetz”). Dies beinhal­tet oft­mals eine Syn­drom­ver­schie­bung von innen (inne­re Orga­ne) nach außen (Haut) sowie eine zeit­li­che Rück­wärts­ent­wick­lung der Beschwerden.

Nur individualisierte Arzneimittelfindung ist erfolgreich

Wäh­rend Hah­ne­mann medi­zin­phi­lo­so­phi­sche Spe­ku­la­tio­nen fern lagen (“Macht’s nach, aber macht’s genau nach!”), kann in den Erkennt­nis­sen von Hah­ne­mann und Hering spe­ku­la­tiv ein Grund­prin­zip von Krank­heit und Gesund­heit gese­hen wer­den: Vie­le Syn­dro­me schei­nen zu ver­schie­de­nen Krank­heits­en­ti­tä­ten zu gehö­ren, obwohl sie in Wirk­lich­keit — aus­tausch­ba­re — Äuße­run­gen ein und der­sel­ben Erkran­kung sein könn­ten. Dies hät­te dann wich­ti­ge Kon­se­quen­zen für die homöo­pa­thi­sche The­ra­pie: Zielt sie näm­lich nicht, wie von Hah­ne­mann vor­ge­macht, indi­vi­du­ell auf die zugrun­de­lie­gen­de Erkran­kung eines Men­schen, blei­ben die The­ra­pie­er­fol­ge unbe­frie­di­gend. Bereits zu Hah­ne­manns Zei­ten woll­ten sich eini­ge Schü­ler die Arbeit der indi­vi­dua­li­sier­ten Arz­nei­mit­tel­fin­dung erleich­tern, indem sie Mix­tu­ren vie­ler ver­schie­de­ner Medi­ka­men­te für defi­nier­te Indi­ka­tio­nen ver­ord­ne­ten. Hier­für hat­te Hah­ne­mann aber kei­nen ande­ren Kom­men­tar als “After-Homöo­pa­thie”. Moder­ne The­ra­pie­stu­di­en mit “stan­dar­di­sier­ter” Ver­ord­nung homöo­pa­thi­scher Medi­ka­men­te bei einer defi­nier­ten Indi­ka­ti­on kön­nen, so zei­gen die (Miss-)Erfolge sol­cher Unter­neh­mun­gen immer wie­der, kei­ne signi­fi­kan­ten The­ra­pie­er­fol­ge erbrin­gen. Die­se kön­nen nur erzielt wer­den, so die Auf­fas­sung vie­ler klas­si­scher Homöo­pa­then, wenn ärzt­li­cher­seits der Ver­such unter­nom­men wird, eine Syn­drom-Ver­schie­bung mit Hil­fe von poten­zier­ten homöo­pa­thi­schen Arz­nei­mit­tel unter Berück­sich­ti­gung des Simi­le-Prin­zips und des Hering’schen Geset­zes zu induzieren.

Autor
• Rai­ner H. Buben­zer, Ham­burg (für TPK /​​ The­ra­peu­ti­kon #30030, 23.03.1993).
Quel­le
• Debats, Fer­nand: Syn­dro­me Shift or The Mor­bid Sub­sti­tu­ti­on as a Lea­ding Prin­ci­ple in Homoeo­pa­thy. Homoeo­pa­thic Links. 1: S. 32–34 (1992).

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